Erzählperspektiven

Erzählperspektiven im Film (er)kennen und verstehen lernen

Lola rennt erzählt uns eine Geschichte. Genaugenommen erzählt der Film drei Variationen einer Geschichte. Doch mit wessen Augen sehen wir die Handlung(en) dieser Geschichte? Wir als Zuschauer sehen das inszenierte Geschehen immer durch das Auge der Kamera. Dabei kann der Kamerablick mit dem Blick einer Figur identisch sein oder die Kamera ist ein für uns unsichtbarer Beobachter und somit unser "Stellvertreter" im filmischen Geschehen. In Lola rennt gibt es wie in den meisten Spielfilmen beide Sichtweisen - aber darüber hinaus auch das raffinierte, selbstreflexive Spiel mit den Konventionen dieser Sichtweisen und den damit einhergehenden Erwartungen.
In diesem Baustein können Sie sich mit diesen Sichtweisen an zwei Beispielen detailliert auseinandersetzen.

Typisch für das filmische Erzählen scheint zunächst der häufige Wechsel der Perspektive zu sein, der Wechsel von subjektivem und auktorialem Erzählen. Der Zuschauer sieht zum einen vom Standpunkt der Kamera aus, wie sich die Figuren an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit verhalten, was sie sagen und wie sie handeln (auktoriale oder allwissende Kamera). Dadurch hat der Zuschauer den Eindruck, dass ein auktorialer, allwissender Erzähler das Geschehen vermittelt. Auf der anderen Seite wird in vielen Einstellungen der Eindruck vermittelt, das Gezeigte werde von einer Filmfigur gesehen. Der Zuschauer nimmt in diesem Fall die Dinge aus der Sicht dieser Figur wahr. Die Einstellung, die die subjektive Sicht einer Filmfigur vermittelt, nennt man entsprechend subjektive Sicht und in der englischen Fachsprache Point of View Shot (abgekürzt POV). Meistens geht einer POV-Einstellung eine sogenannte Blickeinstellung (engl. gaze shot) voraus, die eine Person zeigt, die etwas oder jemanden anschaut (engl. to gaze), das oder der sich außerhalb des Bildes befindet. Nach einem Schnitt folgt dann meist die POV-Einstellung. Die filmische Montagepraxis, die das Ziel hat, die einem Blick oder einer Blickrichtung innewohnende Logik über einen Schnitt hinaus zu gewährleisten, nennt man Blickachsenanschluss.

Exkurs: Schaut man allerdings genauer hin, ist diese zunächst ganz einfache Unterscheidung von subjektivem und auktorialen Erzählen nicht aufrechtzuerhalten.
Von dem rein physischen Point of View, der nur die eine oberflächliche interne Wahrnehmung einer Filmfigur vermittelt, ist nämlich die echte interne Perspektive zu unterscheiden. Gemeint ist damit die Visualisierung der Gedanken und Gefühle einer Figur in einer Einstellung. Eine solche Einstellung wird als Mindscreen bezeichnet. So können in einer Einstellung reale mit imaginären Elementen, Objektives mit Subjektivem verschmelzen. Beispielsweise kann in einem Film eine Figur von außen gezeigt werden, was vordergründig den Eindruck erweckt, hier werde auktorial erzählt (Objektivität). Die Einstellung ist vom Regisseur jedoch so gestaltet worden (vgl. Mise-en-Scène), dass sie zugleich auch die innere Gefühls- und Gedankenwelt der Figur widerspiegelt (Subjektivität). Eine Einstellung, die eine mentale oder emotionale Subjektivität ausdrückt und dabei kein POV-Shot ist, kann als Perception Shot bezeichnet werden. Perception ist hier also sowohl auf äußere Wahrnehmungen wie auch auf innere Selbstwahrnehmungen der Figur zu beziehen. Berühmte Beispiele finden sich in den Filmen Antonionis, Bergmans, Godards oder Tarkowskijs.Eine Extremform subjektiver Kameraführung liegt dann vor, wenn sie durchgehend den Blick des Protagonisten einnimmt (berühmtes und immer wieder angeführtes Beispiel The Lady in the Lake, 1947). Eine solche Inszenierung ist nur äußerst selten praktiziert worden, da diese Art des Erzählens höchst artifiziell wirkt und sich beim Publikum nicht durchgesetzt hat. Zudem werden dadurch die Möglichkeiten filmischen Erzählens einschränkt.


TC: 00:59:19 – 00:59:34

Aufgabe 1

Auf dem Grundriss können Sie schematisch nachstellen, wie der Regisseur die Szene an der Kreuzung Tauroggener Straße/Osnabrücker Straße 📍 inszeniert hat.
  1. Der Filmausschnitt besteht aus vier Einstellungen. Bestimmen Sie zunächst für jede Einstellung, wo sich die Kamera und die Figuren befinden. Drehen Sie die Kamera in die Richtung, in die sie filmt, und zeichnen Sie mit dem blauen Pfeil ggf. die Bewegungsrichtung der Kamera ein (Bewegt sich die Kamera nicht, ziehen Sie die Pfeilspitze in die Kamera und lassen sie so verschwinden).
    Tipp
  2. Zeichnen Sie die Blickrichtungen der Personen mit roten Pfeilen ein. Entscheiden Sie dann, ob es sich bei den einzelnen Einstellungen um Blickeinstellungen, subjektive Einstellungen (POV) oder Einstellungen der allwissenden/auktorialen Kamera handelt. Ordnen Sie dazu die entprechenden Icons zu.
Blickrichtung
Notizkärtchen
Erzählperspektive
  1. Erläutern Sie kurz, warum Sie bestimmte Einstellungen als subjektive Sicht (POV) wahrnehmen. Berücksichtigen Sie dabei auch die Bewegung der Kamera.
  1. Erläutern Sie das inhaltliche Motiv, das dieser Szene zu Grunde liegt, und stellen Sie es in den Kontext der gesamten Filmhandlung.
  2. Tipp

Aufgabe 2

Schauen Sie sich den folgenden Filmausschnitt an, in dem Lola über eine Kanalbrücke läuft, und achten Sie dabei genau darauf, wie sich Ihr Verständnis der Erzählperspektiven in dieser Szene entwickelt.



TC: 00:15:21 – 00:15:34

Auf dem Grundriss können Sie schematisch nachstellen, wie der Regisseur Lolas Lauf über die Brücke inszeniert hat.
  1. Der Filmausschnitt besteht aus vier Einstellungen. Bestimmen Sie zunächst für jede Einstellung, wo sich Lola zu Einstellungsbeginn befindet, und zeigen Sie durch den roten Pfeil an, wohin Lola läuft.
  2. Verfahren Sie ähnlich mit den Kameras. Drehen Sie die Kamera dorthin, wo sie filmt, und zeichnen Sie mit dem blauen Pfeil die Bewegungsrichtung der Kamera ein.
    Tipp
  3. Fügen Sie anschließend für jede der 4 Kameraeinstellungen ein Icon hinzu, das aussagt, ob es sich um eine eher subjektive oder um eine objektive Erzählperspektive handelt.
Notizkärtchen
Erzählperspektive
  1. Erläutern Sie, wie sich Ihr Verständnis der ersten Einstellung dieser Szene hinsichtlich der Erzählperspektive entwickelt. Welche Erwartungen hat der Anfang der ersten Einstellung bei Ihnen geweckt und wie wurden diese eingelöst? Beschreiben Sie eventuelle Irritationen mit den entsprechenden Fachbegriffen der Erzählperspektive.
  1. Erörtern Sie die These, dass die Kamera in einem Spielfilm immer allwissend ist. Führen Sie ggf. ein Gegenbeispiel an.