Gibt es Momente der großen Inspiration im Schneideraum, in denen man sagt: Lass uns hier einfach eine Minute in die Zukunft springen und dann wieder zurück, in denen man etwas aufbricht, was man standardmäßig nicht machen würde?
Bonnefoy: Es gibt eine Szene in
Lola rennt, in der wir extrem viel experimentiert haben. Und das ist auch typisch für die ganze Schnittzeit bei dem Film. Aber bei der Szene war das ganz besonders der Fall, weil sie auf deutlich konventionellere Art und Weise gedreht war. Das heißt, es gab Schuss– Gegenschuss, etc.. Es handelt sich um die Szene, wo Manni den Supermarkt überfällt. Wir haben den Film chronologisch geschnitten. Das heißt, wir haben uns eine Szene nach der Anderen in der Reihenfolge der Geschichte vorgearbeitet, kamen dann bei dieser Szene an und waren uns mittlerweile bewusst, dass wir im Grunde an einem ästhetischen Objekt arbeiten – mehr als an einem psychologischen Film. Und dass der Film eine starke Abstraktion in sich trägt, dass da sehr wie im Videoclip geschnitten ist und dass auch Tempo sehr wichtig ist. Als wir bei dieser Szene ankamen, dachten wir, wir müssen so weitermachen. Aber was können wir tun? Diese Szene ist eigentlich anders! Wir haben also das gesamte Material noch einmal angeschaut und diesmal nur Momente genommen: Ausschnitte, die uns als Solche gefielen. Manchmal, weil der Moment einfach stark war oder weil er gut ausgesehen hat, kurz, lang, was auch immer – wir haben erstmal nur Momente gesammelt. Manchmal zwei-, dreimal dasselbe aus verschiedenen Takes, Wiederholungen. Und dann haben wir all das hintereinander geschnitten, ohne darüber nachzudenken wie – einfach nur hintereinander, ohne hinzugucken. Wir haben ja mit dem Computer geschnitten, so konnten wir uns die visuelle Darstellung davon anzeigen lassen - jedes kleine Segment hintereinander. Wir haben dann diese vielen Segmente genommen und wild durcheinander gewürfelt, ohne wissen zu wollen, was dabei rauskommen würde, und eine Musik, die passen könnte, darunter gelegt. Dann haben wir uns das erst angeguckt. Und natürlich war der Großteil dieser Sequenz völlig misslungen und nicht interessant, aber tatsächlich gab es darunter auch große Überraschungen, die uns sehr inspiriert haben. Wir haben uns also an all diesen überraschenden Momenten orientiert, den Rest gelöscht und in diesem Sinne weitergemacht. Deswegen sieht man in dieser Szene zum Beispiel Momente, in denen Manni mit der Knarre dasteht und sagt: "Alle Hände hoch". Das sagt er zweimal oder vielleicht dreimal, ich weiß nicht mehr, das ist aber nicht derselbe Take, das heißt, die Kamera ist ein kleines bisschen daneben, der Satz ist doppelt und das Licht, die Lichtverhältnisse sind ein bisschen anders. Es gibt diese Wiederholungen, diese Brüche, denn wir hatten das Gefühl, dass im Schnitt etwas passieren muss, was die Emotionalität des Filmes und der Szene erschafft.
Diese Irritation ist sehr subtil. Man muss schon sehr genau schauen, um etwas
Ungewöhnliches zu bemerken. Haben Sie gedacht, dass das mehr im Unterbewussten wirken
soll, ohne dass man es offensichtlich sieht?
Bonnefoy: Wir hatten nicht die Absicht, dass man das entweder sieht oder nicht sieht. Wir wollten mit dieser zufälligen Herangehensweise an den Schnitt kein konzeptionelles Statement machen. Wir wollten nicht dem Publikum sagen: Wir machen hier mit dem Schnitt etwas, was Ihr als solches merken sollt. Wir wollten aber mit diesen Schnitten – und das ist das, was man immer machen sollte, finde ich – die Emotion der Szene einfach so stark wie möglich zum Vorschein bringen, und dies im Grunde mit dem Ansatz, dass es egal ist, ob die Schnitte sichtbar sind oder nicht. Was bei anderen Filmen vielleicht nicht der Fall ist. Zum Beispiel wenn ein ganzer Film sehr konventionell geschnitten ist, was überhaupt keine Wertung sein soll, ganz im Gegenteil, aber wenn man gewohnt ist, Schuss- Gegenschuss zu sehen, alles so geschnitten, dass es nahtlos wirkt. Wenn so ein Film dann plötzlich solche Schnitte hat, dann merkt man sie ganz stark, und dann fragt man sich: Warum? Und das hat eine Präsenz an sich. Aber in dem Fall von
Lola rennt nimmt sich der Film stilistisch schon alle Freiheiten, und deswegen haben wir einfach so weitergemacht.
Quelle und vollständiges Interview als PDF: vierundzwanzig.de,
Video-Interview auf vierundzwanzig.de